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Alt 02.05.2023, 20:25   #3
Mainecoon
 
 
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Vorab:
Der Münchner Westfriedhof (also die U-Bahn-Haltestelle, mit 11 bunten Lampen von Ingo Maurer) ist für mich die schönste Haltestelle in der bayerischen Metropole. Auch und vor allem deshalb, weil Maurer den Friedhof mit einbezogen hat: Die Wände dort sind naturbelassen, unverputzt, roh. Sie wirken wie Lehmwände, deren Unebenheiten von den roten, gelben und blauen Leuchten mit ihren je 3,80m im Durchmesser breiten, schwarzen Lampenschirmen auf eine eigenartige und berührende Art hervorgehoben werden. Die allermeisten Fotos werden übrigens deutlich aufgehellt präsentiert, was nicht der Realität entspricht. Der Bahnhof hat ein eher mystisches, gedämpftes Licht mit deutlichem Schwarzanteil; kühl wirkt er, als sei man in eine Gruft eingetreten, still, selbst wenn viele Menschen auf ihren Zug warten, und dabei weder trist noch düster oder gar bedrohlich. Die Halle verneint nicht die Trauer, die sie tagtäglich erlebt, sie tröstet auch nicht. Aber sie schenkt Ruhe, sanftes Vergessen und so etwas wie ein langsames Verschwinden in den Schatten, als seien es Mäntel, die den Trauernden den Blicken der Anderen entziehen.

Peters Interpretation:
Eine ältere Gestalt betritt langsam einen langen Gang aus kühl-weißen Leuchten, höhnisch belacht von einem Dämon über ihr. Automatisch kommt dem Betrachter Dantes Wort über das Höllentor in den Sinn: ""Lasst, die Ihr eintretet, alle Hoffnung fahren". Hier ist kein sanftes, allmähliches Vergessen, keine wohltuende Stille. Das mächtige Schwarz-weiß kaserniert den Menschen, die Lampen zwingen ihn, sein Leid den ganzen Weg bis zum bitteren Ende bei vollem Bewusstsein zu durchleiden. Die Schatten sind nicht einfach nur Schatten, sondern sekundenschnelle Auslöschung. Hier gibt es nur Hoffnungslosigkeit oder Foltertod. Eine moderne Auschwitzrampe.

Ist Peter seinem Motiv gerecht geworden?
In meinen Augen: nein.
Den Gleichmut des Originals ersetzt Peter durch heftigste Gefühle wie Hass, Verhöhnung, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Angst. Der Farbigkeit des Originals setzt er das starre, gnadenlose Schwarz-weiß entgegen. Obwohl man sich im Original nur wenige Meter unter der Erde befindet und den Ort jederzeit über eine der überbreiten Treppen verlassen kann, sperrt Peters Interpretation uns in den tiefsten, höllischsten Tiefen ein, damit wir auf ewig dort ausharren müssen.

Ist Peters Aufnahme gut?
Er nimmt etwas und eignet es sich mit einer Radikalität an, dass es richtig weh tut. Ohne das Grundgerüst anzutasten, verändert er das Motiv und seine Aussage von Grund auf und macht daraus seins. Das ist nicht gut, das ist herausragend!!!

Aber?
Ich frage mich, ob das Foto ohne die abgebildete Person nicht noch intensiver wäre.
Noch kann sich der Betrachter erleichtert darin flüchten, dass ja nicht ihm das Unvorstellbare droht, sondern der Figur links vorn. Was aber, wenn das höhnische Lachen nicht der Figur, sondern ihm, dem Betrachter, gelten würde? Wenn das Bild zu seinem eigenen Memento mori würde?

Ich bin gespannt auf weitere Kommentare!

Mainecoon
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